International Center for Ethics in the Sciences and Humanities (IZEW)

Das Leichentuch der Sicherheit

von Marco Krüger

30.04.2024 · Es ist eine vielbemühte Binsenweisheit: Absolute Sicherheit gibt es nicht. Jedenfalls ist die Gewährung von Sicherheit angesichts der damit verbundenen materiellen Ressourcen und des stets limitierten Wissens begrenzt. Zudem ist Sicherheit, als ein Wert unter vielen, auch zu begrenzen, wie die Sicherheitsethikerin Regina Ammicht Quinn betonte (2014a, S. 42-43). Dieser Abgesang auf die umfassende Sicherheit klingt bereits wie deren Leichentuch und der Blogbeitrag könnte hier sein Ende finden. Aber die Sicherheitsethik befasst sich nicht mit der Suche nach der vollkommenen Sicherheit, sondern mit der Abwägung von Maßnahmen einer notwendigerweise unvollkommenen und relativen Sicherheit. Dieser, sich stetig im Fluss befindliche, Abwägungsprozess hat Parallelen zu einer Geschichte der griechischen Mythologie: dem Unterfangen Penelopes, ihrem tot geglaubten Ehemann Odysseus ein Leichentuch zu nähen. Daher nutze ich Penelopes Geschichte zur Illustration.

Ihren Ausgangspunkt findet diese Parallele im Stellenwert, den ethische Argumente in der Sicherheitsdebatte aktuell einnehmen. Dabei ist die Hinterfragung der Angemessenheit von Sicherheitsmaßnahmen und -politiken gegenwärtig omnipräsent. Zumindest scheint es so, wenn die Beschränkungen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie, Waffenlieferungen an die Ukraine oder der Zustand des deutschen Katastrophenschutzsystems kontrovers diskutiert werden. Nun ist diese Debatte nicht neu. Vom Sprungverbot vom Rand des Kinderbeckens im Freibad über die Gurtpflicht im Auto und den Polizeieinsatz bei Fußballspielen bis hin zum NATO-Doppelbeschluss: Sicherheitsmaßnahmen werden gesellschaftlich diskutiert, in aller Regel kontrovers. Wer diskutiert, ist dabei oft genauso unterschiedlich wie die Art und Weise der Debatte. Dabei spielen Betroffenheiten (etwa am Kinderbecken) ebenso eine Rolle wie gesellschaftliche Machtverhältnisse (Spivak 1988; Hansen 2000).

Aber auch moralische Argumente und deren ethische Reflektion sind bedeutsam, gerade wenn es um den Wettstreit um gesellschaftliche Akzeptanz geht. Vor allem in Demokratien reicht die bloße gesellschaftliche Machtposition zur Umsetzung der eigenen Positionen glücklicherweise oft nicht aus. Denn Demokratien sind aus guten Gründen Rechtfertigungssysteme, in denen die Regierten (sprich die Bevölkerung) den Regierenden Macht auf Zeit anvertraut und dafür ein „Recht auf Rechtfertigung“ (Forst 2018) erhält. In diesem Sinne tragen sicherheitsethische Fragestellungen auch dazu bei, gesellschaftliche Akzeptanz durch ethische Akzeptabilität möglichst nachhaltig zu gewährleisten, aber auch dazu, ungerechtfertigt empfundene Maßnahmen zu diskreditieren und möglichst schnell wieder loszuwerden.

Sicherheitsethiker*innen bewegen sich in dieser Debatte und navigieren zwischen Irritation und Orientierung (Matzner und Ammicht Quinn 2015). Sie irritieren, wenn sie bisher Unhinterfragtes auf die Probe stellen. Sie geben aber auch Orientierung, wenn normative Abwägungen vorgenommen und eine Entscheidung daraufhin begründet getroffen werden kann. Die Sicherheitsethik ist dabei zunehmend selbstverständlich Teil der gesellschaftlichen Debatte. Ob in der Forschungsförderung oder in der Politikberatung: Die ethische Reflexion ist eine Anforderung an viele Prozesse. Hierbei sind Irritation und Orientierung gleichermaßen Teil eines Erkenntnisprozesses. Jedoch sind auch normative Reflexionen nicht vor einer Instrumentalisierung gefeit. Dies geschieht immer dann, wenn nicht die normative Reflexion zur inhaltlichen Position führt, sondern die inhaltliche Position eine instrumentelle – und oft verengte – Nutzung der ethischen Reflexion fordert.

Wie gut sich ethische Abwägungsprozesse für Irritation bei gleichzeitiger Orientierung eignen, zeigen Gedankenexperimente wie das Trolley-Dilemma. In der Tat lässt sich an diesem Beispiel zeigen, dass verschiedene ethische Denkschulen durchaus zu unterschiedlichen Schlüssen kommen können. Dies birgt dann die Gefahr einer selektiven Betrachtung von Ethik; so wie es gerade für die eigene Position nützt.  Oder überspitzt gesagt: Wenn sich die Ethik nicht einmal zweifelsfrei dazu äußern kann, ob ein Mensch oder fünf Menschen überfahren werden sollen, sind vermutlich auch bei anderen Abwägungsprozessen ambivalente oder sogar gegensätzliche Positionen zu erwarten.

Trotz dieser erwartbaren Abwägungen buhlen diejenigen um die argumentative Gunst der Sicherheitsethik, die bei Debatten um die Angemessenheit der Etablierung einer neuen Sicherheitsmaßnahme ihre Position gerne normativ bestätigt finden möchten. Beispiele hierfür  sind sowohl sicherheitspolitische Initiativen wie die Vorratsdatenspeicherung oder die biometrische Überwachung, als auch die Infragestellung von Beschränkungen während der COVID-19 Pandemie, die sich allesamt stark auf ethische Argumente bezogen. Dieses Buhlen erinnert an einen Mythos, den auch Regina Ammicht Quinn (2014a; 2014b; 2015) zur Illustration von sicherheitsethischen Fragestellungen nutzte: Die Reise des Odysseus. Odysseus Reise eignet sich angesichts der vielfältigen Gefahren, die der Held erlebt, in hervorragender Weise, um über Sicherheit nachzudenken. Nicht umsonst beziehen sich Regina Ammicht Quinn sowie die Autorinnen des Blogbeitrags „Nachdenken über Sicherheitshandeln: Mit Odysseus und Orpheus“, Mara Mühleck und Katharina Wezel, auf Odysseus abenteuerliche Reise. Doch nicht nur in diesem Teil der Odysseus-Geschichte lässt sich einiges über Sicherheitsethik lernen.

Daher wenden wir uns in diesem Beitrag nicht dem hoch gefeierten, offensichtlichen Helden der Geschichte zu, sondern der öfter im Schatten stehenden Heldin: Penelope. Diese wartete nach Odysseus Aufbruch auf ihren Partner und wurde – mit zunehmender Dauer seiner Abwesenheit – mehr und mehr von begierigen Freiern bedrängt. Diese buhlten um ihre Gunst und ließen sich vorerst nur durch einen Trick vom Leib halten: Penelope erbat sich Ruhe zumindest für die Zeit, die sie benötigte, um das Leichentuch für ihren Gatten zu nähen. Um diesen Prozess aber so lang wie möglich zu gestalten, trennte sie des Nachts das Tuch immer wieder auf.

Die gesellschaftliche Rolle der Sicherheitsethik fühlt sich mitunter wie die der Penelope an: Verschiedene Akteur*innen melden ihre Interessen an und buhlen um ihre Gunst (mit unterschiedlichem Maß an Geschick und Charme). Sicherheitsethiker*innen erbitten sich dann auch immer wieder die Zeit, um fundiert die einzelnen Argumente und Befunde gegeneinander abzuwägen und nicht vorschnell den einen Vorschlag zu unterstützen und den anderen zu verwerfen. Dies gilt insbesondere dann, wenn gesellschaftliche Interessensgruppen aus unterschiedlichen Perspektiven auf dieselbe Situation schauen und dann jeweils die klare Unterstützung der Sicherheitsethik einfordern. Von den Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie bis hin zur Videoüberwachung öffentlicher Plätze herrschen konkurrierende Sicherheitsvorstellungen, die mit Verve vertreten werden, die es aber seitens der Sicherheitsethik abzuwägen und anschließend gesellschaftlich zu verhandeln gilt.

Hier kommt dann aber auch schon der zentrale Unterschied zum Tragen: Denn während Penelope sich des Nachts daran machte, das Leichentuch für Odysseus aufzutrennen, um sich die Freier vom Leibe zu halten, wird das Tuch, das die Sicherheitsethik webt, nicht von den Ethiker*innen selber aufgetrennt. Regelmäßig sorgen neue Ereignisse oder unbeachtete Perspektiven dafür, dass Sachverhalte neu zu überdenken sind. Die getroffenen Werturteile sind dabei immer kontextabhängig und daher selten endgültig. Es ist die Aufgabe von Sicherheitsethik, das Tuch immer wieder aufs Neue zu weben und zu verändern, die buhlenden Freier auf Abstand zu halten und sich nicht ungebührlich vereinnahmen zu lassen.

Regina Ammicht Quinn webt seit vielen Jahren dieses Tuch immer wieder aufs Neue. Ihr Wirken ging und geht noch immer weit über die bloße Verhandlung dieser Interessen hinaus und sorgte wo nötig für eine produktive Irritation und wo möglich für eine wichtige Orientierung. Penelope wurde nach drei Jahren des ständigen Auftrennens von Odysseus Leichentuch von ihrer Dienerin Melantho verraten. Zumindest vor einem solchen Verrat ist die Sicherheitsethik gefeit – wenn auch zu dem Preis, dass sich die Aufgabe manchmal eher nach Sisyphus als nach Penelope anfühlt.

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Literatur:

Ammicht Quinn, Regina. 2014a. „Sicherheitsethik. Eine Einführung“. In Sicherheitsethik, herausgegeben von Regina Ammicht Quinn,15-47, Wiesbaden: Springer VS

Ammicht Quinn, Regina. 2014b. „‚No Soul to Damn, No Body to Kick‘: Fragen nach Verantwortung im Kontext der Herstellung von Sicherheit“. In Politik und Unsicherheit. Strategien in einer sich wandelnden Sicherheitskultur, herausgegeben von Christopher Daase, Stefan Engert, und Georgios Kolliarakis, 119–34. Frankfurt am Main; New York: Campus.

Forst, Rainer. 2018. Normativität und Macht. 2. Berlin: Suhrkamp.

Hansen, Lene. 2000. „The Little Mermaid’s Silent Security Dilemma and the Absence of Gender in the Copenhagen School“. Millenium 29 (2): 285–306. doi.org/10.1177/03058298000290020501.

Matzner, Tobias, und Regina Ammicht Quinn. 2015. „Sicherheitsethik in der Anwendung: Ein Praxistest gesellschaftlicher Begleitforschung“. In Sichere Zeiten?, herausgegeben von Peter Zoche, Stefan Kaufmann, und Harald Arnold, 219–34. Berlin: LIT Verlag.

Spivak, Gayatri Chakravorty. 1988. „Can the Subaltern Speak?“ In Marxism and the Interpretation of Culture, herausgegeben von Nelson Cary und Lawrence Grossberg, 66–111. Champaign: University of Illinois Press.

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